Modell und Realität

Ein Kind wird auf die Intensivstation gebracht, septischer Schock, bedingt durch die Immunschwäche infolge einer Chemotherapie. Die Lage ist kritisch, unser Team kämpft. Die Onkologen betonen: Die Prognose der Grunderkrankung ist sehr gut. Der Krebs ist gut heilbar.

Doch ein Gedanke drängt sich auf: Was, wenn das Kind den Schock nicht überlebt? Auf welcher Basis wurde die Entscheidung zur Chemotherapie getroffen? Wie wäre das Leben verlaufen ohne diese Behandlung?

Eine statistische Korrektur

Ich lese von einer Auszeichnung für ein Team, das einen verbreiteten Fehler in der Interpretation von Zahlen im Zusammenhang mit Kaplan–Meier‑Kurven herausgearbeitet hat. In 46 % der untersuchten Studien wurden Überlebenszahlen fehleranfällig dargestellt — mit dem Risiko einer Überschätzung von mehr als 10 % in rund einem Drittel der Fälle (van Walraven et al., J Clin Epidemiol 2016).

In der Onkologie wurden Überlebensraten lange Zeit mit Kaplan–Meier‑Kurven berechnet. Diese Kurven scheinen klar: „Nach fünf Jahren leben noch X % der Patienten rezidivfrei.“ Doch Kaplan–Meier blendet aus, dass Patienten vor diesem Ereignis an etwas anderem versterben können. Diese Tode werden „zensiert“ — als ob sie nichts mehr über den weiteren Verlauf aussagen würden. Die Folge: Die Zahlen können besser aussehen, als es die Realität tatsächlich hergibt.

Die Wortwahl

Studien zeigen außerdem: Wenn Patienten dieselben Überlebensdaten unterschiedlich präsentiert bekommen — mal als „5‑Jahres‑Überleben“, mal als „Rückfallrate“, mal als „progressionsfreies Überleben“ — treffen sie oft andere Entscheidungen. Die Form der Zahl beeinflusst die Wahl, manchmal stärker als der Inhalt.

Und nun?

Vielleicht lohnt es sich, bei der nächsten Zahl einen Moment innezuhalten. Nicht, weil die Zahl nichts taugt oder wir auf Modelle verzichten sollten. Sondern weil jede Zahl eine Vereinfachung ist — hilfreich wie eine Landkarte. Doch die Landkarte ist nicht das Gebiet. Das Modell ist nicht die Realität selbst.

Gerade dort, wo es um Leben und Tod geht, gerade dort, wo Eltern und Ärzte mit unterschiedlichem Blick auf dieselbe Situation schauen, wird es elementar: Der gute Arzt muss unterscheiden können zwischen dem, was ein Modell zeigt, und dem, was in der Realität vor ihm liegt. Nur so gelingen Entscheidungen, die dem einzelnen Menschen gerecht werden.

Referenzen

van Walraven C, Davis D, Forster AJ, Wells GA. Competing risk bias was common in Kaplan–Meier risk estimates published in prominent medical journals. J Clin Epidemiol. 2016;69:170–5. doi:10.1016/j.jclinepi.2015.05.034

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